AGF:
Wie liefen die Kommunikation und der Austausch der fertigen Tracks während des Projekts ab? In der Regel warst du ja nicht vor Ort, sondern hast daheim komponiert. Welche Probleme ergaben sich dadurch?
Matthias:
Richtig, vor Ort war ich selten. Ging ja auch gar nicht, ich hatte ja in Berlin mein Studium (na ja, mehr oder weniger), drei andere Jobs (Radio, Klavierlehrer und Frühbetreuung an einer Grundschule in Kreuzberg), plus Frau und Kind. Und hatte außerdem auch für Publisher in England, Frankreich, Schweiz und so gearbeitet. Das musste alles zu Hause passieren. In den ersten Jahren – also auch bei Thalion – war da nichts mit „Files eben mal per Internet rüberschicken“. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen und die Übertragungsraten per Modem waren unterirdisch. Also wurden Disketten hin und her geschickt, dazu wurde viel telefoniert. Alles passierte also mit einer Verzögerung von zwei bis drei Tagen, je nachdem, wie schnell die Post war. „Mach mal eben“ ging also nicht, jede Neuerung brauchte gut eine Woche. Fanden wir damals aber normal, wir kannten das ja nicht anders.
AGF:
Wie war der Kontakt zwischen den anderen Team-Mitgliedern? Habt ihr viel ausgetauscht und über das Spiel und die Fortschritte gesprochen, oder warst du mehr der stille Auftragserlediger?
Matthias:
Wir haben schon oft telefoniert. Auch für Telefonate hatte ich einen Vordruck für mich (genau wie fürs Porto, um das später abrechnen zu können), um mir Notizen zu machen – gab ja auch kein WhatsApp oder SMS, um mal eben nachzufragen. Da war es wichtig, sich die Sachen besser aufzuschreiben. Und einige dieser Zettel habe ich auch noch. Schon irre, was man alles so aufhebt. Kleiner Ausschnitt gefällig?
11.12. (09.15 Uhr) – Erik – Frage zur Liste
11.12. (13.00 Uhr) – Erwin – Probleme mit FX, Wasser als Geheimlevel
12.12. (13.30 Uhr) – Jurie/Erwin – nur so
13.12. (13.00 Uhr) – Erwin – FX
13.12. (17.00 Uhr) – Erwin – FX
14.12. (10.30 Uhr) – Erwin – FX
14.12. (13.30 Uhr) – Erwin – FX
15.12. (10.40 Uhr) – Erwin – Reittier-Musik falsch, neue einbauen
17.12. (11.00 Uhr) – Erwin – Problem mit Sumpf FX
Und so ging das jeden Tag. Drei bis vier Anrufe und eine Stunde am Telefon waren da die Regel. Wir waren also im ständigen Austausch. „Thanks for supporting me with long phonecalls“, schrieb Erwin dann später im Abspann von Lionheart. Gut, dass es in Berlin keinen Minutentakt gab, jedes Gespräch kostete 20 Pfennig, egal wie lange und wohin, das war schon praktisch. Zwei bis drei Mal war ich aber auch in Gütersloh vor Ort.
AGF:
Du warst zwar wenig vor Ort, hattest aber trotzdem Einblicke in die Umstände, unter welchen die anderen entwickelten. Kannst du uns was daraus erzählen, wie es dort ablief?
Matthias:
Dass Erwin und Jurie da zeitweise in den Räumen von Thalion wohnten, ist ja inzwischen bekannt. Ich habe mich mit allen da immer wunderbar verstanden, da gab es nie Streit oder ein böses Wort. Erik (Simon) war da ein toller Projektleiter, der zwar die Zügel fest in der Hand hatte, aber auch so was wie die „Mutter der Kompanie“ war. Auch wenn ich mal da war, war da in meinen Augen immer eine sehr freundschaftliche Atmosphäre. Ob da nun mal hinter den Kulissen die Fetzen geflogen sind, weiß ich nicht. Aber das ist ja normal, wenn du mit so einem kleinen Team unter Zeitdruck zwei so große Projekte gleichzeitig entwickelst und Tag und Nacht zusammenhockst, da ist dann schon mal Druck auf dem Kessel. Das Büro von Thalion war ja auch nicht sonderlich groß, wenn ich mich recht erinnere, eher wie eine Wohnung. Kein Vergleich zu Blue Byte (für die ich später mal gearbeitet hatte), die ein ganzes Haus mit mehreren Etagen hatten.
AGF:
Wie erklärst du es dir, dass ausgerechnet diese Jungs das wohl technisch unglaublichste Amiga-Spiel auf die Beine gestellt haben? Waren die Programmierer einfach so viel besser als die anderen, oder war es einfach nur eine verdammt gute Teamarbeit?
Matthias:
Da kam vermutlich alles zusammen. Ein gutes, eingespieltes Team, gute Programmierer und einfach der Wille, etwas Einmaliges zu schaffen und nicht den hundertsten Aufguss von irgendwas. Anfang der 90er hattest du ja auch viele Freiheiten, konntest rumprobieren, ohne dass dir das Marketing da reinquatschte (wie ich es später öfter mal erlebt habe) und komplette Konzepte wieder einstampfte, aus Angst vor schlechten Verkaufszahlen. Schau dir die Games doch heute mal an, von Ubisoft, Electronic Arts usw. Da werden einmal erfolgreiche Konzepte gemolken, bis die Kuh tot ist. Sachen wie Lionheart oder Ambermoon könntest du heute gar nicht mehr machen. Daher: Wir haben wohl auch den richtigen Zeitpunkt erwischt.
AGF:
Warst du auf den einschlägigen Messen dabei, auf welchen das Spiel gezeigt wurde? Wie waren die Reaktionen der Besucher?
Matthias:
Ich war Ende 1993 einmal auf der World of Amiga in Köln, ich glaube mit Ikarion – Thalion war da ja schon Geschichte. Das wäre aber sicher interessant gewesen. Der größenwahnsinnige Willi Carmincke hatte ja zur Präsentation des A320-Games irgendwo sogar mal einen kompletten Flugsimulator mit beweglichem Cockpit aufgefahren.
Das mit den Messen ging bei mir erst viel später los, mit der Gamescom in Leipzig. Da war ich dann aber auch nicht für Publisher im Einsatz, sondern für meine Radiosender (damals 1Live, MDR Sputnik, HR XXL/YouFm und so). Ich habe da auch zeitweise die
ARD-Sammlung gemacht für alle ARD-Sender. Spielemessen also dann nur noch als Journalist, nicht als Musiker. Wobei, einmal wurde auf dem Eröffnungskonzert der Gamescom im Gewandhaus in Leipzig auch ein Amiga Medley gespielt, unter anderem mit ein paar Takten aus Lionheart. Da war ich dann mal als Musiker eingeladen. Da hatte ich mir gedacht, jetzt wird deine Musik tatsächlich mal im altehrwürdigen Gewandhaus von einem Orchester gespielt. Das ist ja schon ziemlich cool! War auf jeden Fall mal was, um endlich auch mal meine Eltern zu beeindrucken, die ansonsten ja den ganzen „Computerkram“ für eine brot- und kulturlose Kunst hielten.
AGF:
Hast du irgendeine besondere Story oder Anekdote aus der Entwicklungszeit von Lionheart, etwas Verrücktes, Lustiges oder einfach Erzählenswertes?
Matthias:
Hm – sorry, nee, eigentlich nicht. Ist alles zu lange her, und ausgerechnet dazu habe ich mir keine Notizen gemacht. Vielleicht, dass Valdyn, der Held aus Lionheart, verblüffend große Ähnlichkeit mit dem Grafiker Henk Nieborg hatte, der sich damit im Spiel wohl selbst verewigt hat (auch wenn er das immer abstritt). Dass Erik den Erwin zeitweise am liebsten erwürgt hätte, weil der mit Falsettstimme gerne laut und falsch (und immer dasselbe) sang, ist inzwischen ja schon mehrfach nachzulesen gewesen. Aber sonst – zu lange her.
AGF:
Du hast einen der bekanntesten Extro-Texte der Amiga-Szene geschrieben: „Möge all denen, die dieses Game kopiert haben, der Amiga unter den Händen verfaulen“. Dieser Text kommt am Ende von Lionheart vor. Wie kam es dazu? Und hättest du gedacht, dass diese Zeile so viel Aufsehen erregen würde? Hat sich Lionheart letztlich gelohnt, oder war es ein finanzieller Flop? Die Aussagen gehen dabei etwas auseinander.
Matthias:
Hat sie Aufsehen erregt? Wusste ich gar nicht. Irgendjemand sagte damals kurz vor Abschluss des Projekts: „Ihr könnt noch was in den Abspann schreiben, egal was“. Wenn ich mich recht erinnere, schrieb Erwin unter anderem: „Hallo Mutti“, Erik bedankte sich bei mir mit: „For not being as lazy as certain other sound programmers.“ Und ich hängte an meine Oscar-Rede dann eben noch diesen Satz an, ohne mir groß Gedanken zu machen. Wir hatten da halt verdammt viel Arbeit und Herzblut reingesteckt und zuvor auch groß angekündigt, dass das unser letztes Amiga-Game sei, wenn das wieder nur kopiert wird (es hatte ja extra keinen Kopierschutz). Daher also noch mal meine „Ermahnung“. Wer heute also einen verfaulten Amiga zu Hause hat, der weiß, warum – das waren meine
Voodoo-Kräfte. J Das hatte ich aber schon längst wieder vergessen. Erst vor einigen Monaten machte mich jemand wieder darauf aufmerksam.
Ob sich Lionheart gelohnt hat? Kann ich nicht sagen. Das Finanzielle hatten Willi und Erik im Blick. Sicher ist nur, dass das die letzten Games von Thalion waren. Wenig später wurde der Laden zugemacht, weil wohl kein Geld mehr da war. Ob das aber nun an Lionheart lag, oder ob es da Probleme mit den Geldgebern gegeben hat, kann ich nicht sagen. Hinter Thalion stand ja glaube ich Ariolasoft, die später zu United Software wurden.